Wissenschaftler*innen des Kompetenzzentrums für Kulturerbe der Universit?t Paderborn haben über 1.500 Personen befragt
Die fünfte Jahreszeit war lange nicht so ruhig wie in diesem Jahr. Wegen der Coronapandemie mussten die Jecken auf belebte Stra?en, gesellige Sitzungen und gemeinsames Schunkeln verzichten. ?Ausdrucksformen des immateriellen Kulturerbes wie der rheinische Karneval sind von der Pandemie besonders stark betroffen“, sagt Jonas Leineweber, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universit?t Paderborn. Viele Rituale, Br?uche und Feste k?nnen seit Pandemiebeginn nicht wie gewohnt stattfinden, werden verschoben oder fallen komplett aus. Wie bewerten die Menschen im Rheinland den Ausfall der traditionellen Sitzungen, Umzüge und Konzerte? Was sagt das über den Stellenwert der Kulturform für die Region aus? Wie sind die Vereine mit der Situation umgegangen und wie sch?tzen sie die Folgen, Herausforderungen und m?glichen Potenziale der Pandemie im Hinblick auf die Resilienz der Kulturform ein? Diesen und weiteren Fragen gehen Wissenschaftler*innen der Universit?t Paderborn am Kompetenzzentrum für Kulturerbe nach. Eine Online-Umfrage liefert nun erste Ergebnisse: ?Geselligkeit, Gemeinschaft und Frohsinn zeichnen den Karneval aus Sicht der Befragten aus. Genau jene Aspekte also, die in ihrem Zusammenspiel w?hrend der Coronapandemie besonders schwer zu vermitteln sind“, so Leineweber.
Vom 25. Februar bis zum 28. April haben insgesamt 1.542 Personen an der Online-Umfrage teilgenommen. Knapp 87 Prozent von ihnen sind Mitglied in einem Karnevalsverein. ?Die hohe Teilnahmebereitschaft an der Umfrage zeigt, wie stark das Bedürfnis nach wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit dem immateriellen Kulturerbe w?hrend der Krise ist. Gerade die kulturelle Praxis gesellschaftlicher Rituale, Br?uche und Feste ist von der Pandemie stark und in ihren Kernelementen betroffen“, betont Prof. Dr. Eva-Maria Seng, Leiterin des Kompetenzzentrums für Kulturerbe.
Menschen vermissen Veranstaltungen – finden Absage aber richtig
Die Umfrage macht deutlich: Geselligkeit, Gemeinschaft, Frohsinn, Tradition, Gemeinsinn, regionale Identit?t und Kontinuit?t zeichnen für 90 Prozent der Befragten den rheinischen Karneval am st?rksten aus. ?Schon an diesen noch allgemeinen Angaben ist zu erkennen, wie schwer die einzelnen Aspekte in Einklang mit den Restriktionen der Coronapandemie zu bringen sind“, hebt Leineweber hervor.
Dass sich die kulturelle Praxis des rheinischen Karnevals durch die Pandemie stark oder sehr stark ver?ndert hat, denken nahezu alle Befragten (96 Prozent). Im Vergleich zu anderen Veranstaltungen und Angeboten der Vereine bedauern über 90 Prozent der Umfrageteilnehmer*innen den Ausfall der Karnevalsumzüge und -sitzungen am meisten. Die Veranstaltungen haben für mehr als 90 Prozent insbesondere als Ort der Begegnung und des Wiedersehens mit Freund*innen und Bekannten sowie als Ort der Geselligkeit und Gemeinschaft gefehlt. Auch das Erleben von künstlerischen Auftritten und die Abwechslung zum Alltag haben über 85 Prozent der Befragten stark beziehungsweise sehr stark vermisst. Der Wegfall des ausgelassenen Feierns und des gemeinsamen Essens und Trinkens wurde dagegen mit knapp 70 Prozent weniger bedauert.
Dennoch halten 93 Prozent der Befragten die Absage der Karnevalsfeste der Session 2020/21 vor dem Hintergrund der Coronapandemie für richtig. Aus ihrer Sicht h?tten die Vereine w?hrend dieser Zeit insbesondere Werte wie Verantwortungsbewusstsein (87 Prozent), Vernunft (83 Prozent) und Solidarit?t (77 Prozent) vermittelt. ?Wie zahlreiche zivilgesellschaftliche Akteure haben auch die Karnevalsvereine ihre Scharnierfunktion und gesellschaftliche Verantwortung wahrgenommen und somit dazu beigetragen, die Einhaltung der Restriktionen und die gebotene Rücksichtnahme in die Breite der Gesellschaft zu tragen“, so Leineweber.
Die von vielen Vorst?nden durch das Pandemiegeschehen befürchtete Entw?hnung und Abwendung vom Verein sind laut der Umfrageergebnisse dagegen nicht messbar: Für mehr als jede*n Vierten ist trotz der zahlreich ausgefallenen Veranstaltungen die Bedeutung der Karnevalsvereine gestiegen, w?hrend sie für 12 Prozent zurückgegangen ist. Die Motivation, zukünftig eine Karnevalsveranstaltung zu besuchen, ist sogar bei knapp der H?lfte der Befragten gestiegen und nur bei ca. 5 Prozent gesunken. 28 Prozent schilderten au?erdem, motivierter zu sein, sich zukünftig in einem Karnevalsverein zu engagieren.
Die Krise als Anlass der Weiterentwicklung
Au?erdem haben die Wissenschaftler*innen danach gefragt, in welchen Bereichen sich die Karnevalsvereine w?hrend der Pandemie weiterentwickelt haben. Die gr??ten Tendenzen sehen die Befragten bei der Nutzung sozialer Medien (46 Prozent) und von Videoformaten (41 Prozent) sowie im Bereich der Digitalisierung (40 Prozent). Auch seien die Vereine kreativer geworden (45 Prozent). Leineweber vermutet, dass damit insbesondere die Gestaltung von Alternativprogrammen gemeint sein dürfte.
Bei der Bewertung der h?ufig virtuell durchgeführten Alternativprogramme geht die Meinung der Befragten je nach Wohnort allerdings stark auseinander: W?hrend 27 Prozent die Schulnoten sehr gut und gut vergeben, bewerten ebenso viele Personen die Alternativaktionen als befriedigend und knapp ein Drittel sogar nur als ausreichend, mangelhaft oder ungenügend.
Auch im Hinblick auf die Ver?nderung der Vorstandsarbeit seien digitale Formate deutlich bedeutender geworden: Laut Umfrage haben 64 Prozent der befragten Vorstandsmitglieder w?hrend der Corona-Krise im Rahmen einer Vorstandst?tigkeit an einer Videokonferenz teilgenommen, fast Dreiviertel waren mit dieser Erfahrung zufrieden beziehungsweise sehr zufrieden. Lediglich 9 Prozent der befragten Vorstandsmitglieder geben an, schon vor der Pandemie an einer Videokonferenz im Vereinskontext teilgenommen zu haben. Dazu Leineweber: ?Die in der Pandemie eingeübten digitalen Formate k?nnten sich langfristig auch für die bessere Einbindung und Teilhabe derjenigen eignen, die nicht mehr im Ort des Karnevalsvereins wohnen, sich aber dennoch engagieren und einbringen m?chten.“
Folgen für Karnevals- und Ortsgemeinschaft bei anhaltendem Pandemiegeschehen
Sollte die Krise auch im n?chsten und übern?chsten Jahr anhalten, sodass Umzüge, Sitzungen und Konzerte weiterhin ausfallen müssen oder nur stark eingeschr?nkt stattfinden k?nnen, habe das aus Sicht der Befragten erhebliche Folgen für die Praxis der Karnevalsvereine – aber auch für das Leben in den St?dten und D?rfern. 74 Prozent rechnen dann mit einem Rückgang der Vereinsgemeinschaft, 68 Prozent gehen von einem Mitgliederschwund und 73 Prozent sogar von einer Existenzbedrohung der Karnevalsvereine aus.
Bei anhaltendem Pandemiegeschehen befürchten darüber hinaus 88 Prozent, dass kulturelle Angebote in ihrem Wohnort abnehmen und auch soziale Aktionen weniger werden (74 Prozent). Eine deutliche Mehrheit vermutet au?erdem, dass durch einen Ausfall der Karnevalsveranstaltungen im n?chsten und übern?chsten Jahr das Gemeinschaftsgefühl (67 Prozent) sowie der Zusammenhalt in ihren Wohnorten (58 Prozent) zurückgehen k?nnte, w?hrend die Unzufriedenheit steigt (68 Prozent) und ein genereller Attraktivit?tsverlust des Wohnortes einsetzen k?nnte (56 Prozent). ?Hier zeigt sich, dass die Vereine auf lokaler und regionaler Ebene als wichtige Tr?ger der kulturellen Infrastruktur im Rheinland fungieren und gemeinschaftsstiftend wirken“, erl?utert Leineweber.
?Um die Auswirkungen der Pandemie in diesem besonderen kulturellen Bereich überwinden zu k?nnen, muss sich unsere Gesellschaft Gedanken über diese Entwicklungen machen und Resilienzstrategien, also Zukunftskonzepte, für diese kulturellen Ph?nomene erarbeiten“, schlussfolgert Projektleiterin Prof. Seng. Eine Grundlage dafür k?nnten die Corona-Sonderstudien des Kompetenzzentrums für Kulturerbe bilden. Neben den Folgen der Pandemie für den Karneval haben die Paderborner Wissenschaftler*innen auch Auswirkungen auf das Schützenwesen in Westfalen und die Schw?rtagstradition in den baden-württembergischen St?dten Ulm, Reutlingen und Esslingen am Neckar untersucht.