Nimmt man die ?ffentlichen Debatten in den Massenmedien zum Ma?stab, dann ist die Wahrnehmung der Reformp?dagogik in den vergangenen Jahren vor allem durch den Skandal um die Odenwaldschule bestimmt worden. Reformp?dagogik wird hier mit dem Missbrauch von Schülerinnen und Schülern durch Lehrer und Erzieher, mit der Unf?higkeit, sexuelle Gewalt in p?dagogischen Beziehungen wahrzunehmen und ihr vehement entgegenzutreten, identifiziert. Ein zweiter Modus der Aneignung der Reformp?dagogik ist weniger ?ffentlichkeitswirksam, unter engagierten Lehrerinnen und Lehrern, aber auch unter bildungsbewussten Eltern jedoch ausgesprochen pr?sent: die ausdrückliche Orientierung an reformp?dagogischen Modellen bei der Suche nach Alternativen zu einer Regelschule, die nicht zuletzt durch G8 und PISA-Schock zunehmend p?dagogisch fragwürdig erscheint. Der enorme Boom der reformp?dagogischen Montessori- und Waldorfeinrichtungen ist hier nur ein Indiz unter vielen.
Vor dem Hintergrund dieser widersprüchlichen Aneignungsweisen ver?ffentlichen die beiden Paderborner Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Wolfgang Keim und Dr. Ulrich Schwerdt ein ?Handbuch zur Reformp?dagogik in Deutschland“, das sich darum bemüht, die Ambivalenz dieser ?p?dagogischen Bewegung“ schon in ihrer historischen Gestalt, also in den Jahren zwischen 1890 und 1933, erkennbar zu machen. Die deutsche Reformp?dagogik wird von den Herausgebern als kritische Reaktion auf ein System p?dagogischer Institutionen und Praktiken begriffen, dessen Aufbau am Ende des 19. Jahrhunderts im Deutschen Reich zu einem ersten Abschluss gekommen war. Gegenüber bisherigen wissenschaftlichen Darstellungen wird vor allem die enge Beziehung zu anderen zeitgen?ssischen Reformbewegungen wie der Frauen-, der Arbeiter-, der Jugend- und der Friedensbewegung, aber auch dem (partei-)politischen Diskurs, den p?dagogischen Berufsverb?nden, nicht zuletzt den neu entstehenden Wissenschaften (Psychologie und Erziehungswissenschaft) besonders akzentuiert. In weiteren Kapiteln werden von mehr als 25 renommierten Autorinnen und Autoren reformp?dagogische Leitideen erl?utert, Praxisfelder – neben der Schule u. a. auch die Erwachsenenbildung, die Heil- und Sozialp?dagogik oder die Gef?ngnisp?dagogik – beschrieben und p?dagogische Handlungssituationen erl?utert, in denen der innovative Charakter der damaligen Initiativen besonders deutlich wurde, so z. B. im Unterricht, in Arbeit, Spiel, Feier, künstlerischer Eigenaktivit?t, auf Fahrt und im Lagerleben.
Auf der Grundlage zahlreicher lokalgeschichtlicher, biographischer und problemgeschichtlicher Untersuchungen, die in den vergangenen Jahrzehnten entstanden sind, unternimmt diese zweib?ndige, mehr als 1250 Seiten umfassende Publikation den Versuch, das derzeitige Wissen zu zentralen Aspekten der historischen Reformp?dagogik zusammenzufassen und in neuartiger Weise zu systematisieren. Gegenüber oberfl?chlichen Vereinheitlichungen betonen die Paderborner Bildungsforscher die Vielfalt, die Vielgestaltigkeit und die Vielschichtigkeit der historischen Reformp?dagogik und zugleich die Notwendigkeit einer kritischen Vergegenw?rtigung.
Kontakt:
Dr. Ulrich Schwerdt
Universit?t Paderborn
Fakult?t für Kulturwissenschaften
Institut für Erziehungswissenschaft
schwerdt@upb.de
05251-60-2941
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30098 Paderborn