Wenn Kindern die Worte fehlen – Dr. Ul­rich Stitzinger zum In­ter­na­tionalen Tag der Sprac­hentwicklungsst?rung

Studien zeigen, dass etwa 7 Prozent aller Kinder von einer Sprachentwicklungsst?rung (SES) betroffen sind. Das sind etwa zwei Kinder in jeder Kindergartengruppe oder Schulklasse. Um auf dieses Ph?nomen aufmerksam zu machen, findet am 16. Oktober zum dritten Mal der ?Internationale Tag der Sprachentwicklungsst?rung“ statt. So f?llt es betroffenen Kindern etwa besonders schwer, ihre erlebte Umwelt sprachlich wiederzugeben, Schulaufgaben zu verstehen oder Texte zu schreiben. Warum eine SES aber nicht als einfache Fehlfunktion zu verstehen ist, sondern weitreichende Beeintr?chtigungen mitbringt und umfangreiche Unterstützung erfordert, erkl?rt Dr. Ulrich Stitzinger, der an der Universit?t Paderborn die Professur ?Inklusion mit F?rderschwerpunkt Sprache und Kommunikation“ vertritt.

SES ist heute die h?ufigste Entwicklungsst?rung im Kindesalter. Je nach Schweregrad und Komplexit?t k?nnen sich die St?rungen langfristig auf die Entwicklung eines Kindes auswirken und auch noch im Schulalter fortbestehen, wie Stitzinger zu bedenken gibt: ?Die Auswirkungen einer SES betreffen sowohl die Laut-, als auch Schriftsprache. Genauer gesagt die Bereiche Artikulation, Wortschatz, Grammatik und Kommunikationsverhalten.“ Neben Schwierigkeiten beim Verstehen von Texten und Schulaufgaben, für das die betroffenen Kinder sehr viel Energie investieren müssten, k?nnten h?ufig auch Folgest?rungen in weiteren Bereichen entstehen. Stitzinger: ?Kinder mit einer SES werden im Vergleich zu typisch entwickelten Kindern als ?ngstlicher oder hyperaktiver erlebt. Ebenso kann es vorkommen, dass sie intuitiv Strategien entwickeln, um Beeintr?chtigungen zu kompensieren oder ?unsichtbar“ zu machen. Daraus resultieren wiederum Auswirkungen auf das schulische Lernen, die von den Lehrkr?ften oft nicht korrekt interpretiert werden k?nnen.“

?Late-Talker“ und ?Late-Bloomer“

Die Ursachen für Sprachentwicklungsst?rungen k?nnen unterschiedlich ausfallen. In der Forschung werden sie von psycho-reaktiven Kommunikationsst?rungen, organisch bedingten Stimmst?rungen sowie zentral-organisch verursachten Sprech- und Sprachst?rungen, die vom Nervensystem ausgehen, abgegrenzt. So k?nnten diese Schwierigkeiten laut Stitzinger etwa als eine isolierte Erwerbsst?rung w?hrend der kindlichen Sprachentwicklung oder auch als Folge einer anderen pathologisch bedingten St?rung, zum Beispiel einer H?rst?rung, auftreten und sich ganz individuell bemerkbar machen. ?Erste Anzeichen auf eine SES zeigen sich oft in einem sp?ten Beginn der kindlichen Sprachproduktion, die teilweise bis ins vierte Lebensjahr geht. Diese Kinder werden auch als ?Late-Talker“ bezeichnet. Bei ihnen entwickelt sich die Lautbildung h?ufig langsamer, der Wortschatz wird nicht altersgerecht aufgebaut und es verbleibt lange bei Ein- oder Zweiworts?tzen. Ebenso werden nonverbale Ausdrucksm?glichkeiten bevorzugt eingesetzt“, so der Sprachforscher. Gleichzeitig sei jedoch auch zu beobachten, dass einige Kinder jene Sprachentwicklungsverz?gerungen im Laufe des frühkindlichen Spracherwerbs überwinden. Hier wird von sogenannten ?Late-Bloomern“ gesprochen.

Gesellschaft und Bildungssystem sind gefragt

Um die Teilhabe- und Bildungschancen von betroffenen Kindern nicht zu gef?hrden, so bekr?ftigt Stitzinger, bedürfen sie einer sprachtherapeutischen Behandlung sowie einer sonderp?dagogischen Unterstützung: ?Am Anfang steht eine diagnostische Abkl?rung, auf die eine logop?dische bzw. sprachtherapeutische Behandlung erfolgen sollte. Im n?chsten Schritt ist eine Kooperation zwischen Experten der Sprachtherapie und Lehrkr?ften für Sonderp?dagogik mit dem F?rderschwerpunkt Sprache und Kommunikation sinnvoll. Auf diese Weise k?nnen Auswirkungen von SES auf Lernprozesse direkt im Unterricht erkannt und gezielte Ma?nahmen durchgeführt werden.“ Zu diesen Ma?nahmen z?hlen etwa der Einsatz phonematischer Handzeichen, Strategien, um sich an W?rter zu erinnern, visuelle Text-Erschlie?ungsmethoden oder geschützte Sprachr?ume, in denen Kinder in Peergruppen miteinander sprechen k?nnen. Doch auch das famili?re Umfeld des Kindes w?re in solchen F?llen miteinzubeziehen, damit durch Beratung und spezielle Hilfestellungen – etwa zum eigenen Sprech-, Sprach- und Zuh?rverhalten – ein negativer Entwicklungskreis vermieden werden kann: ?Letztlich ist aber die gesamte Gesellschaft und das Bildungssystem gefordert, das Ph?nomen einer Sprachentwicklungsst?rung nicht einzig als defizit?re Zuschreibung einer Person zu verstehen, sondern als ver?nderbaren Kontext einer Beeintr?chtigung-Barriere-Situation. Das bedeutet: Zus?tzlich zur sprachlichen F?rderung müssen vorhandene sprachliche Lernbarrieren im Umfeld des Kindes abgebaut werden. Dies w?re etwa durch deutliches Sprechen des Gespr?chspartners m?glich, den gezielten Einsatz von Mimik und Gestik oder sprachliche Vereinfachungen in Lehr- und Lernmaterialien.“

Dr. Ulrich Stitzinger vertritt seit diesem Wintersemester die Professur ?Inklusion mit F?rderschwerpunkt Sprache und Kommunikation“ am Institut für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft. Mit der Professur ist gleichzeitig die Errichtung des F?rderschwerpunkts ?Sprache“ im Lehramt für Sonderp?dagogische F?rderung verbunden. Neben ?Lernen“ und ?Emotionale und soziale Entwicklung“ k?nnen Paderborner Lehramtsstudierende mit Beginn dieses Semesters zwischen drei F?rderschwerpunkten w?hlen.

Weitere Informationen zu den Forschungen von Dr. Ulrich Stitzinger unter:
go.upb.de/Stitzinger

Foto (Universit?t Paderborn): Um Kinder mit Sprachentwicklungsst?rungen besser zu unterstützen, sei es laut Stitzinger auch wichtig, vorhandene sprachliche Lernbarrieren abzubauen.
Foto (Roland Schneider/Bilderraum Fotostudio): Dr. Ulrich Stitzinger vom Institut für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft.

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Vertr.-Prof. Dr. Ulrich Stitzinger

Institut für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft

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