Facht­a­gung: "Auto­mat­is­men - Selbst-Tech­no­lo­gi­en"

8. bis 9. April 2011: Universit?t Paderborn, Geb?udeteil E, 2. Stock, Raum 339

Mit Automatismen zwangsl?ufig verbunden – der griechische Wortstamm ,auto-’ spricht es aus – ist die Frage nach dem Selbst und nach den Bedingungen, die es hervorbringen. Gefasst als Abl?ufe, die sich einer bewussten Kontrolle weitgehend entziehen, wirken Automatismen gleichwohl strukturbildend. Automatismen setzen ein ?Selbst’ einerseits voraus: andererseits ist zu fragen, wie ein ?Selbst’ entsteht, wie es sich stabilisiert und reproduziert, und welchen Anteil hieran wiederum Automatismen haben.

Das Paderborner Graduiertenkolleg ?Automatismen – Strukturentstehung au?erhalb geplanter Prozesse in Informationstechnik, Medien und Kultur“ nimmt mit seiner Tagung die Reibungsfl?chen des Automatismen-Konzepts in den Blick. Ziel der Tagung ist es zu untersuchen, wie sich Mechanismen der Selbstkonstitution im Wechselspiel zwischen Subjekt, Gesellschaft und Medientechnologien vollziehen.


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Programm

 

Freitag, 8. April 2011

13.00 Begrü?ung, Einführung

Panel 1 | Selbst-T?tigkeiten technischer Objekte

13.30 Uhr
Jochen Venus
Automat und Subjekt. Zur Morphologie und Semiotik neuzeitlicher Technophantasien und Sozialutopien.

Im ?bergang von der vormodernen zur modernen Gesellschaft entstehen zwei h?chst verschiedenartige, Illustrationen und Semantiken von Handlungsmacht: Der menschen?hnliche Automat und das autonome Subjekt. W?hrend der  Automat als kunstvolle Imitation des Menschen die funktionale Fremdbestimmung des Menschen zur Anschauung bringt, analysiert die Subjektphilosophie die M?glichkeit des Menschen, als autonomes Vernunftwesen die eigene Selbstverzweckung zu entscheiden und zu beurteilen.

Beide Figurationen, die selbstl?ufige Technizit?t und die selbstgesetzgebende Vernunft, sind im Kern aporetisch und suchen in immer neuen Anl?ufen ihre konzeptuelle Problematik zu l?sen. Der Vortrag wird pr?gnante Stationen auf dem historischen Weg dieser neuzeitlichen Problemlage verdeutlichen und die Frage diskutieren, ob mit der Computertechnologie und den verschiedenen Figurationen des Posthumanismus ein Umbruch sich andeutet, der die neuzeitliche Morphologie und Semiotik von Automat und Subjekt hinter sich l?sst.

 

14.30 Uhr
Claus Pias
Selbstl?ufer. Von der Freiheit zur Freizeit und wieder zurück.

Um 1960 erzeugte die Vorstellung, da? die gesamte Warenproduktion an einen selbstlaufenden, kybernetischen Maschinenpark delegiert werde k?nne, einen phantasmatischen ?berschuss, der an den Grundannahmen ?konomischer, gesellschaftlicher und philosophischer Existenz zu rütteln erlaubte. Sei es, da? die Wiederkehr einer aristotelischen oikonomia in Aussicht gestellt wurde, die von der Verteilung der Reichtümer statt von der Verwaltung des Mangels ausgeht; sei es, da? eine neue Existenzbestimmung des Menschen jenseits der ?Anthropologie der Arbeit? n?tig zu werden schien, in deren Zuge auch der soziale Wert von Arbeit zur Evaluation ansteht; oder sei es, da? ein fundamental neues Bildungssystem gefordert wurde, das den M?glichkeiten lebenslanger Lern- und Bildungsfreiheit gerecht werden k?nne.

Diese Radikalisierung im Sinne einer utopischen Massenarbeitslosigkeit war vielleicht nur m?glich geworden durch eine spezifische Form der Vergleichung von Menschen und Maschinen, die Konkurrenzen und wechselseitige Ausschlüsse implizierte. So schien etwa der Mensch pl?tzlich nur noch da Mensch zu sein, wo er "kreativ" und bar alle Automatismen dastand, die an Maschinen delegierbar schienen. Die Frage des Vortrags richtet sich darauf, welche theoriegeschichtlichen Folgen das Scheitern sowohl bestimmter ?Menschenfassungen? als auch bestimmter technischer Implementierungen für Konzepte wie ?tacit knowledge?, ?heterogene Kollektive? oder ?augmented intelligence? gehabt haben mag.


15.30 Uhr
Kaffee

 

16.00 Uhr
Christoph Neubert
Selbstlos. Heterotechnologien im Menschen- und Maschinenpark

Modernistische Utopien wie auch Dystopien der technowissenschaftlichen Entwicklung unterstellen eine Autonomie bzw. Eigenlogik innovativer Dynamiken. Diese Annahme kann die Gestalt eines – historisch immer schon der Naivit?t überführten – Fortschrittsglaubens annehmen, gewinnt aber aktuell dort an Suggestivkraft, wo sie sich biologisch-evolution?rer Parallelen bedient oder avancierte Konzepte wie Emergenz und kollektive Intelligenz ins Feld führt.

Ein ganz anderes Bild zeichnet die Soziologie technischer Innovationen im Kontext der Akteur-Netzwerk-Theorie: Statt operativer und genetischer Autonomie stehen hier Kontingenzen im Vordergrund. Die Existenz und die Funktion soziotechnischer Systeme sind durchweg fragil und unwahrscheinlich. Der Vortrag wird exemplarische Linien der Innovations- und Diffusionsforschung von Gabriel Tarde bis zu Latour verfolgen, um die Implikationen einer Ethnografie bzw. Mikrosoziologie der Technik für das Verh?ltnis von Mensch und Apparat zu diskutieren.

Achtung: Der Vortrag von Erich H?rl mit dem Titel "Technik und Lebendiges. Zur objektgeschichtlichen Bedingung und Reichweite von Simondons Kritik der Automatenfaszination" muss leider ausfallen.

 

Panel 2 | Selbst-Verh?ltnisse, Reflexion

17.00 Uhr
Jens-Martin Loebel
Privacy is Dead. Ein Fünf-Jahres-Selbstversuch der bewussten Ortsbestimmung mittels GPS.

Mobiltelefone und Navigationsger?te liefern st?ndig Daten, die es erlauben den Aufenthaltsort des Nutzers genau zu bestimmen und anhand von Bewegungsprofilen detaillierte Rückschlüsse über Tagesabl?ufe, Lebensgewohnheiten und soziale Kontakte zu erhalten. Social-Network-Dienste wie ?Foursquare“ oder ?Gowalla“ erm?glichen dem Nutzer, den eigenen Aufenthaltsort in Echtzeit mit Freunden zu teilen oder virtuelle Abzeichen durch das Aufsuchen realer Orte zu erstehen.

Um diese unbemerkt anfallenden Datenspuren ins Bewusstsein zu rücken, hat der Autor mit Hilfe mehrerer GPS-Empf?nger jeden seiner Schritte im ?ffentlichen Raum über einen Zeitraum von fünf Jahren aufgezeichnet. Die Daten wurden anschlie?end in einer Datenbank verarbeitet, mittels moderner Data-Mining-Techniken analysiert und dreidimensional in Google Earth visualisiert. Im Vortrag wird das aus den gesammelten und archivierten Bewegungsdaten akkumulierte pers?nliche Bewegungsprofil pr?sentiert und Fallstricke der Technik aufzeigt – in der Hoffnung, eine Diskussion über datenschutzrechtliche Probleme anzusto?en.

 

19.30 Uhr
Abendessen

 

Samstag, 9. April

9.30 Uhr
Volker Peckhaus
Den Automatismen auf der Spur. Konzepte und Grenzen rationaler Zug?nge zu Wissen und Wissenschaft.

Klassische Positionen der Erkenntnistheorie der Moderne streben eine Emanzipation des erkennenden Subjekts von Autorit?ten und transzendenten Instanzen an. Ein auf sich selbst bezogenes Denken sucht seinen methodischen Ausgang beim Subjekt, denn nichts steht v?llig in unserer Macht au?er unseren Gedanken (Descartes). Das Selbstbewusstsein wird zum Ausgangspunkt der Unterscheidung des Selbst vom Anderen. Die metaphysische Annahme der Gleichf?rmigkeit der Natur (z.B. Humes Principle of Uniformity) l?sst die au?ermenschliche Natur zu einem regelhaften, im Prinzip rational erfassbaren Prozess werden.

Die rationalistische Vorstellung von der vollst?ndigen Erfassbarkeit des Wissbaren wurde durch die Unvollst?ndigkeits?tze Kurt G?dels erschüttert und in den Kampfansagen der postmodernen Wissenschaft (Lyotard) abgeurteilt. Wer angesichts dieser Sachlage von der Krise des Subjekts redet, muss allerdings konstatieren, dass die Einsicht in die faktische Begrenztheit des Menschen von Anbeginn an Gegenstand der philosophischen Reflexion war. Gerade die Selbstaufkl?rung über die Begrenztheit des Menschen er?ffneten neue methodologische Chancen, die zu Strategien der Irrtumsvermeidung (Descartes) und der Entwicklung von pragmatischen Findungsverfahren (Leibniz) führten. Erst die Abkehr vom Anspruch einer ?allbefassenden Wissenschaft, der Wissenschaft von der Totalit?t des Seienden“ (Husserl) führt zum Verlust der Lebensbedeutsamkeit und damit zur Krise der neuzeitlichen Wissenschaft.

 

10.30 Uhr
Kaffee

 

11.00 Uhr
Anil K. Jain
Reflexion, Deflexion und die Rolle von Automatismen.

Die klassische Subjekttheorie definierte das Subjekt über sein Selbst-Verh?ltnis, die Reflexion. Gleichzeitig waren die empirischen Subjekte immer angewiesen auf Mechanismen der Vergewisserung, der Vereinheit?lichung und Objektivierung, die der Reflexion entgegen laufen. Diese m?chte ich ?deflexiv’ nennen.

Deflexive Strukturen, die u. a. auf dem Momentum der Routinen und Automatismen beruhen, generieren ihrerseits Reflexionen - genau durch den Versuch Reflexionen zu unterbinden und sie zu kontrollieren.

Darüber hinaus darf man auch die produktiven Elemente der Deflexion nicht au?er Acht lassen. Der deflexive Selbstbezug schafft Selbstvergewisserung und damit Identit?t. Zudem entlastet er vor den überbordenden Anforderungen der Reflexion, die keine Selbstbegrenzung kennt. Damit wirkt Deflexion auch konservierend und ist als eine wahre Selbsttechnologie anzuerkennen - allerdings immer verbunden mit der Gefahr sich im Sog der Eindeutigkeit zu verlieren.

 

Panel 3 | Selbst-Konstitution, Selbst-Organisation, Kollektive

12.00 Uhr
Annette Runte
Automatismus und Autismus. Zur Subjektkonstruktion in medizinischen und literarischen Diskursen der Moderne.

Eine 'tiefgreifende Entwicklungsst?rung', die sich durch extreme Abkapselung, Verstummen und panische Angst vor Ver?nderung manifestiert, ist seit dem Ende des 19. Jahrhunderts das medizinisch konstituierte Syndrom des Autismus. Es ist zum diskurshistorischen Paradefall normalistischer Selbst-Technologien geworden. Im Unterschied zur Figur des exzentrischen 'Sonderlings’ verk?rpert der pathologisierte Autist mit seinen stereotypen und repetitiven 'Ticks’ die tautologisierte Selbstreferenz des Bewusstseins. Der kollektivsymbolischen Normalisierung autistischen Rückzugs, gestützt durch die Medien, kontrastiert die Singularit?t eigenartiger Automatismen, deren spezifische Wiederholungsstruktur aus psychoanalytischer Sicht symptomatisch lesbar ist. Der Reduktion des autistischen ?Ph?nomens’ auf ein Symptom widersteht allerdings seine Artikulation. Im geplanten Beitrag soll die Ambivalenz der Verschr?nkung von heteronomem Zwang und Selbstführung anhand medizinischer und autobiographischer Diskurse entfaltet werden.

 

13.15 Uhr
Mittagessen

 

14.30 Uhr
Ludwig Pongratz
Selbsttechnologien und Kontrollgesellschaft. Gouvernementale Praktiken in p?dagogischen Feldern.

?Das Vortragsthema ist in fünf Schritte untergliedert: Der erster Schritt knüpft an Foucaults Analyse ?sanfter’ Disziplinartechniken an. Dazu nimmt er Bezug auf die ?klassische’ Reformp?dagogik, also auf die Epochenschwelle im ?bergang vom 19. zum 20. Jahrhundert. Der zweite Schritt thematisiert den Wandel dieser Disziplinartechniken im Kontext der Krise der so genannten ?Einschlie?ungsmilieus’. Dabei spielen vor allem ?berlegungen von Gilles Deleuze zur Entstehung moderner ?Kontrollgesellschaften’ eine Rolle. Der dritte Schritt rückt die spezifische Form der ?Regierung des Sozialen’ in den Blick, die Foucault mit dem Begriff der ?Gouvernementalit?t’ umrei?t. Er macht deutlich, dass die aktuelle Bildungsreform als ?gouvernementale Strategie’ gelesen werden kann. Der vierte Schritt rückt eine spezifische p?dagogische Kontrollpraxis in den Blick, die im Zuge der Bildungsreform auf wachsende Zustimmung st??t: den ?Trainingsraum’. An ihm l?sst sich nachvollziehen, wie bestimmte ?Selbsttechnologien’ in p?dagogischen Feldern zum Zug kommen. Der fünfte Schritt thematisiert schlie?lich die Inkonsistenz bzw. ?innere Brüchigkeit’ gouvernementaler Praktiken. Er geht der Vermutung nach, dass solche Praktiken beil?ufig oder wider Willen bef?rdern, was ihnen widerstreitet: die Bereitschaft und F?higkeit zum kritischen Einspruch.

 

15.30 Uhr
Sebastian Vehlken
Schw?rme. Zootechnologien. Epistemische Rekursionen selbstorganisierender Kollektive.

Eine Mediengeschichte der Schwarmforschung ist immer auch eine Geschichte des Scheiterns medientechnischer Durchmusterungstechniken angesichts eines Wissensobjekts, das stets ein unhintergehbares (und sogar konstitutives) Rauschen produziert. Andererseits sind Schw?rme aber auch faszinierende Beispiele für Ph?nomene der Selbstorganisation "führungsloser" Kollektive, die stets in Bezug auf ein "Au?en" zu denken sind. Denn ihre Bewegungsdynamiken finden im Rahmen einer flexiblen und selbstt?tigen Adaption an sich st?ndig ?ndernde und teils unvorhersehbare Umweltbedingungen statt.

Mein Beitrag wird untersuchen, wie Schw?rme medienhistorisch zu operativ einsetzbaren "Wissensfiguren" entwickelt werden konnten. Dabei, und dies w?re die zentrale These, steht eine rekursive Verschr?nkung von selbstorganisierenden Prozessen auf Prozesse der Selbstorganisation zwischen Biologie und Computertechnik im Mittelpunkt: Ein rudiment?res Wissen biologischer Schwarmforschungen inspiriert neuartige Computerprogrammierungs-Prinzipien und digitale Visualisierungsverfahren, deren Anwendung in der biologischen Forschung Schw?rme erst hinreichend beschreibbar macht. Mit agentenbasierten Computersimulationen (ABM), die sich auf ein (schwarm-) biologisches Wissens gründen, k?nnen Schw?rme ab den 1990er Jahren im Rahmen einer neuen Episteme erforscht werden. Doch in diesem Zusammenhang werden Schwarmprinzipien zugleich auch als simulatorische L?sungsverfahren für technische Anwendungen in "unscharf" definierten Problembereichen operabel. Hier wird die Abgabe von Kontrolle seitens des Modellierers an die selbstt?tige L?sungssuche der ABM-Systeme zum Prinzip erhoben, gerade auch um kontraintuitive Ans?tze und alternierende Szenarien zu generieren. Schw?rme sollten mithin als "Zootechnologien" verstanden werden, in denen sich eine Biologisierung des Computers und eine Computerisierung der Biologie verschr?nken und dadurch die Frage nach den Techniken kollektiver Selbstorganisation und ihren "Randbedingungen" mediengeschichtlich-exemplarisch verortbar machen.